Der Tag, der im Prinzip auch PC-Special erst möglich machte.
ZitatAlles anzeigenDonnerstag, 9. November 1989
Turbulente Wochen, ja Monate, liegen hinter uns, seitdem der legendäre Schnitt durch den Zaun zwischen Ungarn und Österreich geschah. Im Mai, genau an meinem Geburtstag, wurde die DDR-Volkskammer neu “gewählt”. Diesmal sollte der Wahlbetrug den SED-Chergen nicht durchgehen. Die Bilder aus unserer Prager Botschaft haften ebenso in meinem Hirn wie die Ereignisse am Dresdner Hauptbahnhof im Rahmen heftiger Demonstrationen. Immer ebenso in meinen Gedanken die Angst um meine Dresdner Freunde. Meine Erleichterung, dass ihnen nichts passiert war, es ihnen gut geht und sie sich an genau jenem Tag dem Bahnhof ferngehalten haben, an dem es dort zu den heftigsten Aufeinandertreffen zwischen Demonstranten und Volkspolizei kommt (zur Erinnerung: Der umgekippte, brennende VoPo-Wartburg vor dem Haupteingang). “Wir mussten doch am nächsten Tag zur Arbeit und früh raus, das wäre zu spät geworden.”
Die Lage hat sich in den letzten Wochen nicht entspannt. Die Ausreisewelle rollt weiter, die Leute glauben den neuen Machthabern nicht, die noch vor vier Wochen auf der Tribüne in Ostberlin 40 Jahre DDR bejubelt haben. Die Montagsdemonstrationen finden längst nicht mehr nur in Leipzig statt.
Was soll ich davon nur halten? Noch im letzten Jahr haben wir unseren Jahresurlaub in Dresden verbracht. Man kann das mit Sicherheit meinen Stasiunterlagen entnehmen, die es ebenso sicher geben wird - ich weiß es (noch) nicht… Das wäre auch ein Beleg, dass Bernd damals schon unsere bundesrepublikanische Nationalhymne kannte, denn die haben wir zwei gesungen - gegen vier Uhr morgens mitten in Dresden unter Ausnutzung der ganzen Breite des Bürgersteiges vor der Herkuleskeule . Meine Schwester und Mathias ließen uns gehörigen Vorsprung, verständlich irgendwie…
Ich sitze nach Dienstschluss nun noch alleine an der Theke unseres Unteroffizierheimes, möchte noch ein Bierchen trinken, mit dem Keeper noch etwas quatschen. Als Schatzmeister der UHG e.V. bin ich mit für den Laden verantwortlich. Ansprechbar auch nach Dienst für jedermann. Heute ist hier aber echt nix los. Ruhe. Sieht nach frühen Feierabend für das Personal aus.
Wir sind aber auch alle irgendwie angespannt. Was kommt da womöglich auf uns als Bundeswehr zu? Wie so viele Kasernen ist auch in unserer Reichswaldkaserne in den letzten Wochen Platz geschaffen worden. Platz für mögliche Übersiedler, die das ungarische Zaunloch nutzen. Wir rechnen mit Flüchtlingen aus Rumänien, definitiv sind wir in Goch nicht für DDR-Bürger vorgesehen.
Wir haben zwei Gebäude hergerichtet. Unser Feldwebelwohnheim ist leer und auch der Unterkunftsblock 13 meiner/unserer Stab und Stabskompanie. Umgebaut zu einer Notunterkunft. In Windeseile und mit unbürokratischen Maßnahmen, die mir mal einen eigenen Bericht dazu wert sein werden. Nie war ich stolzer auf “meine” Kompanie und meine Kameraden als in diesen Tagen.
Auch angespannt, auch etwas platt. Teilweise mit Sicherheit auch mit einem Überreagieren meinerseits, denn ich habe momentan die gelbe Spießkordel um, weil ich unsere Mutter der Kompanie krankheitsbedingt vertreten muss darf. Seht es mir bitte nach, Kameraden .
Also ich sitze da eben alleine an der Theke. Irgendwas erledige ich (Deckel durchgucken oder was weiß ich). Im Raum hinter der Theke läuft der kleine Fernseher, unser Keeper hat irgendwas dort zu tun und bekommt das Geschehen im TV nur am Rande mit. Ich bin mit meiner Sache beschäftigt und achte gar nicht darauf, zumal ich die Glotze nur hören, aber nicht sehen kann.
Da ruft ein aufgeregter Keeper: “Mü, komm’ mal schnell! Die Grenze ist auf. Die haben die Grenze aufgemacht.” “Du spinnst doch, du willst mich verar***en.” “Nein, komm’ mal gucken.”
Ich rufe sofort meine Eltern an. Die haben das noch gar nicht mitbekommen, was gerade passiert ist. Danach “befehle” ich - ja, gebe ich zu, mit Tränen in den Augen - dem Keeper, ein Bier mit mir zu trinken und mich gleich abzukassieren.
Ab nach Hause, Fernseher an. Ich muss das jetzt alles für mich alleine sacken lassen und versuchen zu begreifen. Schabowski? Nie gehört bis dahin. Ihn würde ich aber gerne mal persönlich kennenlernen. Ihm habe ich kurzerhand “verziehen” (natürlich mit ein klein wenig gekreuzten Fingern hinterm Rücken, also so ganz pauschal dann doch nicht).
Jetzt liefen die Tränen bei mir in Sturzbächen.